»Es sollte einen deutlichen öffentlichen Protest geben«

»Es sollte einen deutlichen öffentlichen Protest geben«

Auch der langjährige Pastor Carl Osterwald solidarisiert sich mit Enercon-Beschäftigten

 

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Carl Osterwald, geboren 1927, war zwischen 1964 und 1973 Pastor in Kapstadt, danach 11 Jahre aktiv in der Seemannsmission, bis 1989 war er Pastor in Ostfriesland, dann ehrenamtlich Ausländerbeauftragter des Landkreises Aurich, jetzt Vorsitzender des KZ-Gedenkvereins Engerhafe.
Herr Osterwald, sie sind sozusagen ein ostfriesisches Urgestein. Hat es sie überrascht, dass ein Unter­nehmen, das wie Enercon so eng mit Aurich und der Region verbunden ist, gewerkschaftlich engagierte Betriebsrats­kandidaten einschüchtert, sogar gewählte Betriebsräte entlässt?
Ja. Ich habe mich in den 90er Jahren intensiv um die Asylsuchenden und Flüchtlinge gekümmert. Ziemlich viele von denen, die ich damals betreut habe, fanden bei Enercon einen Job. Da habe ich immer gedacht: »Enercon, das ist ne gute Sache.« Deshalb habe ich es nicht für möglich gehalten, dass es so etwas gibt. Wenn ich höre, dass Menschen klein gemacht werden, sträubt sich bei mir alles.
Es ist doch selbstverständlich und auch gesetzlich geregelt: Die Beschäftigten in so großen Betrieben haben das Recht auf eine Mitarbeitervertretung und in der Gewerkschaft zu sein. Bei VW oder anderen Unternehmen ist so etwas kein Thema. Das ist auch vernünftig, denn wir sind als Menschen grundsätzlich und immer abhängig. Auch in einem Industriebetrieb sind alle aufeinander angewiesen, deshalb sollten auch alle ihre Erfahrungen austauschen und aufeinander hören. Wer dazu nicht bereit ist, schadet dem Unternehmen und verletzt den Mitarbeiter, egal ob er am Band oder in der Leitung beschäftigt ist.
Warum halten sie es für wichtig, dass sich die Beschäftigten in der Gewerkschaft organisieren?
Ich nehme ein Beispiel aus meiner Arbeit: Ich war Generalsekretär der Seemannsmission. Alle Seemannsmissionen der Welt haben sich zu einem Verband zusammengeschlossen: der International Christian Maritime Association. Wir haben damals gut mit der Gewerkschaft ITF zusammengearbeitet, der Internationalen Transportarbeiter Föderation. Wir wollten in der Südsee eine Station für Seeleute aufbauen, die von deutschen Reedereien angeheuert wurden und durch das Leben auf See vollkommen entwurzelt waren. Sie müssen bedenken, seit es Schifffahrt gibt, werden Seeleute ausgebeutet, weil sie sich als einzelne nicht wehren können. Die ITF hat uns sofort in unserem Vorhaben unterstützt, wir konnten die Station aufbauen und betreiben. Es war mit Händen zu greifen, dass Arbeiter sich nur wehren können, wenn sie eine starke Organisation im Hintergrund haben. Der „kleine“ Arbeiter, wenn er alleine ist, hat keine Möglichkeit, sich Gehör und Geltung zu verschaffen. Interessenkonflikte können nur auf Augenhöhe der Partner fair ausgehandelt werden.
Wie beurteilen sie die Folgen des Verhaltens von Enercon für das Ansehen der Region?
Enercon ist ein Betrieb, auf den man stolz sein kann und möchte. Vor vielen Jahren, als Student, habe ich in einer Wiener Zeitung einen Witz gelesen. Da stand: »Was würden Sie tun, wenn morgen die Welt untergeht?« Die Antwort: »Ich würde nach Ostfriesland gehen, da passiert alles erst 50 Jahre später.« Das war der Ruf, den Ostfriesland lange Zeit hatte. Heute ist das anders, wir sind Vorreiter bei erneuerbaren Energien. Und als Ostfriesen identifizieren wir uns gern damit. Und nun zu hören, dass ein Betrieb technisch großartig aber sozial kümmerlich ist, das tut weh! Damit wird nicht zuletzt unser gute Ruf aufs Spiel gesetzt.
Was sollte ihrer Meinung nach die Öffentlichkeit machen?
Es gehört zur Verantwortung der Bürger, sich zu diesen Problemen zu äußern, zu sagen: Das darf nicht sein! Und diese Bürger gibt es. Mich rief z.B. ein Kollege an, auch ein pensionierter Pastor, der von den Vorgängen bei Enercon in der Zeitung gelesen hatte und aufgebracht war. Gleichzeitig gibt es aber auch eine verbreitete Gleichgültigkeit: Wir feiern! Hier ein Fest und da ein Fest. Das Feiern ist nicht schlimm. Doch leider führt es auch dazu, dass viele Leute gleichgültig auf Probleme reagieren. Ich wundere mich schon, dass da kein wirkungsvoller Protest kommt, auch nicht aus der Politik. Es ärgert mich sogar, dass keiner aufsteht gegen die wachsende Ungerechtigkeit bei der Bezahlung, gegen die Probleme mit Leiharbeit und Werkverträgen. Ich habe das selber erlebt, als es in der Schifffahrt mit der Ausflaggung von Schiffen begann. Wenn man nicht von Anfang an etwas dagegen unternimmt, kann man diese Ungerechtigkeiten plötzlich nicht mehr stoppen. Es sollte also einen deutlichenöffentlichen Protest geben.
Wie bewerten sie die Aussagen von Enercon, dass die erhobenen Vorwürfe nicht den Tatsachen entsprechen?
Das schaffte eine neue Situation. Es geht ganz offenbar um einen Konflikt. Ich bleibe bei dem, was ich gesagt habe, aber sich jetzt nur auf eine Seite zu stellen, würde den Konflikt verschärfen. Darum kann es nicht gehen, sondern man muss einen Weg zu einem friedlichen Miteinander finden. Meistens gibt es in solchen Fällen kein deutliches Schwarz-weiß, sondern ein Geflecht von schwarzen, weißen und grauen Tönen, und es ist oft mühsam, dieses zu entwirren. Das muss aber passieren, weil gedeihliches Miteinander Vertrauen voraussetzt. Gerade in hoch­technisierten Betrieben muss sich einer auf den anderen verlassen können. Man muss also nicht danach suchen, wer lügt, sondern an einem runden Tische wieder Vertrauen aufbauen. Zuzuhören – und zwar jedem – ist wichtiger als schnell mit dem Wort zu sein.

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